Titelbild

Titelbild
Dieses Titelbild ist von meiner Schwägerin - vielen Dank dafür!

Donnerstag, 20. November 2014

92 Die kleine Feldmaus braucht Ideen

Es war ein herrlicher, lauer Herbsttag. Die kleine Feldmaus und ihre Freunde spielten den ganzen Tag auf dem Feld beim Weiher. Sie spielten Indianer, Polizei und Familie mit Kindern.

Als die Feldmaus am späten Nachmittag wieder zuhause war, mußte sie noch eine Hausaufgabe machen. Das hatte sie leider immer wieder aufgeschoben. Aber morgen mußte es fertig sein. Also setzte sie sich an ihren Schreibtsich und holte das Deutschheft raus.

Sie sollten einen kurzen Aufsatz schreiben und mit eigenen Worten beschreiben, worum es in der Geschichte ging, die ihre Lehrerin ihnen am Donnerstag vorgelesen hatte. Puh! Das war ja schon ein paar Tage her. Sie holte die Geschichte hervor und las sie noch einmal durch.

Es war einmal ein König mit Namen Sonnenherz. Er hatte eine Tochter, die Sonnenmarie hieß. Sie war von holder Pracht. Der König und die Königin liebten sie von ganzem Herzen. Doch eines Nachts verschwand Marie aus den Mauern des königlichen Schlosses. Das Königspaar suchte ihre Tochter überall. Zwei Jahre tagein, tagaus suchten sie und ihre Untertanen. Doch dann wurde ihre Trauer zu groß. Und langsam kam die Gewißheit, daß sie ihre Tochter nie wieder sehen würden. "Oh Tochter, komm zu uns zurück!" beteten sie jeden Tag. Aber ihr Wunsch fand keine Erfüllung. Nach 20 Jahren und einem Tag kam eine hübsche, junge Frau ins Schloß. Niemand hatte sie vorher je gesehen. Sie sagte, sie wüßte etwas über den Verbleib der königlichen Tochter. Eine böse Hexe hätte sie entführt und mit einem Zauber verwunschen. Das Königspaar glaubte der jungen Frau nicht, wollten aber auch keine Möglichkeit verstreichen lassen, ihre Tochter wiederzusehen. Also folgten sie der jungen Frau ganz allein bis tief in den Wald. Als sie am tiefsten und dunkelsten Punkt des Waldes angekommen waren, sah das Königspaar ganz viele Tiere und Wesen, die keine Angst vor den Menschen hatten. Die junge Frau erklärte, daß an diesem Punkt des Waldes noch nie zuvor ein Mensch gewesen war. Der König fragte, wo seine Tochter denn nun wäre. Und die junge Frau antwortete, daß er ganz fest daran glauben müsse, seine Tochter wiederzusehen. Dann, und nur dann, würde sie hier, am tiefsten Punkt des Waldes, erscheinen. Der König und die Königin versuchten, ganz stark daran zu glauben. Aber es geschah nichts. Die Tiere um sie herum kamen und gingen, ohne sie weiter zu beachten. Bald konnte das Königspaar nicht mehr. Nach 20 Tagen und einer Stunde gaben sie endgültig auf, an die Rückkehr ihrer Tochter zu glauben. Eigentlich hatten sie nie wirklich an ihre Rückkehr geglaubt. Der König legte sich auf den Rücken und schaute hinauf durch die Baumkronen in den Himmel. Die Königin tat es ihm nach und schloß nach einiger Zeit ihre Augen. "Wir werden unsere Tochter nicht wiedersehen." sagte die Königin zum König. "Laß uns an die Zeit denken, als sie noch bei uns war. Laß uns gegenseitig Geschichten und von Gefühlen erzählen, an die wir uns noch erinnern können." Und so erzählte jeder abwechselnd dem anderen eine Geschichte aus der Zeit, als ihre Tochter noch bei ihnen war. Bald vergaß das Königspaar, wo es sich befand. Sie dachten nur noch an die schöne Zeit vor dem Verschwinden ihrer Tochter. Sie fingen an, zu lachen und zu weinen über die schönen, lustigen und ergreifenden Geschichten, die sie sich von Früher erzählten. Dann fing der Wald plötzlich an, zu leuchten. Das Königspaar bemerkte die Veränderung zuerst gar nicht und erzählte, lachte und weinte weiter. Der Wald um das Königspaar wurde immer heller und leuchtender. Der König und die Königin hörten auf, zu lachen, und konnten gar nicht glauben, was sie sahen. Ihre Tochter, schön wie am Tag ihres Verschwindens, kam aus dem gleißenden Licht auf sie zu und nahm sie in die Arme. "Ihr habt meinen Verlust vergessen, als ihr anfingt, an Früher zu denken und euch daran zu erfreuen. Diese Freude war das Wichtigste, das ihr mit mir verloren hattet. Und es war das Wichtigste, das ihr trotzdem bewahren mußtet." Das Königspaar verstand, was ihre Tochter ihnen sagen wollte, und nahm sie an ihren Händen und sie gingen zurück zum Schloß. Dort lebten sie wieder zufrieden und ohne Trauer. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

"Boah, was eine doofe Geschichte." dachte sich die Feldmaus. Wer schreibt so einen Quark nur auf? Aber sie mußte die Hausaufgabe nun einmal machen. Und so fing sie an.

1. Versuch:
Irgend so ein König hatte eine wer weiß wie schöne Tochter. Doch die Tochter verschwand spurlos. Der König und seine Königin suchten zwei Jahre ohne Unterbrechung nach ihr. Dann gaben sie auf. Eine junge Frau klopfte nach 20 Jahren ans Schloß und sagte, sie wüßte wo die Prinzessin sei. Das Königspaar folgte der Frau bis in die Mitte vom Wald. Es war sehr traurig und konnte nicht glauben, daß seine Tochter wiederkäme. Sie träumten von Früher, als ihre Tochter noch da war. Dann wurde es hell und die Tochter tauchte wieder auf. Ende.

"Naja." dachte sich die Feldmaus. "Netter Versuch. Gleich nochmal."

2. Versuch:
Der König und die Königin hatten eine wunderschöne Tochter. Sie lebten in einem Schloß und alles war gut. Eines Tages verschwand die Tochter spurlos. Das Königspaar suchte sich dumm und dämlich, fand sie aber nicht. Es wurde sehr traurig und gab die Suche deswegen auf. Nach 20 Jahren kam eine junge Frau ins Schloß. Sie behauptete, sie wüßte, wo die verschwundene Tochter sei. Der König und die Königin glaubten der Frau zwar nicht, folgten ihr dann aber doch bis tief in den Wald. Dort hatten die Tiere keine Angst vor Menschen. Aber die Tochter tauchte trotzdem nicht wieder auf. Erst als das Königspaar sich Geschichten von Früher erzählte, vergaß es seine Trauer und freute sich wieder. Dann fing der Wald an, zu brennen, und ein Stuntman kam als Tochter-Double durch die Flammen auf die Eltern zu. Als das Feuer aus war, nahmen sich alle in die Arme und feierten ein großes Fest.

"Mist! Das war auch nichts." Die Feldmaus zerknüllte das Blatt und legte ein neues auf den Schreibtisch.

3. Versuch:
Das Königspaar Sonnenherz hatte eine wunderschöne Tochter, die Sonnenmarie hieß. Plötzlich veschwand die Tochter spurlos. Das Königspaar und alle Untertanen suchten nach ihr. Nach zwei Jahren gaben sie die Suche vor lauter Trauer auf. Sie glaubten jetzt, ihre Tochter nie wieder zu sehen. Denn auch Beten hatte ihnen ihre Tochter nicht zurückgebracht. Nach 20 Jahren und einem Tag kam eine hübsche, junge Frau ins Schloß. Sie wüßte, wo die Tochter zu finden sei, behauptete sie. Das Königspaar glaubte ihr nicht. Dennoch folgte es der unbekannten Frau. Diese führte das Königspaar bis tief in den Wald. Dort lebten Tiere, die noch nie zuvor Menschen gesehen und deswegen keine Angst hatten. Sie müssten jetzt fest an die Rückkehr der Tochter glauben, sagte die junge Frau. Und das Königspaar versuchte, fest daran zu glauben. Aber es passierte nichts. Die beiden legten sich auf den Waldboden und schauten in den Himmel. Dabei erzählten sie sich Geschichten von Früher. Schöne Geschichten über ihre noch viel schönere Tochter. Dabei vergaßen sie ihre Trauer und ihren Ärger. Sie fingen an, zu lachen und zu weinen, wegen der schönen Geschichten von Früher. Plötzlich erhellte sich der Wald und ihre Tochter kam aus der Helligkeit auf sie zu. Sie erklärte ihren Eltern, daß durch die Geschichten von Früher Freude ins Leben des Königspaars zurückgekehrt sei, und sie deswegen zu ihnen zurückgebracht worden wäre. Die Eltern nahmen ihre Tochter in die Arme und gingen zum Schloß zurück. Dort lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

"Geht doch!" Die Feldmaus war damit ganz zufrieden. Aber sicherheitshalber holte sie die zerknüllten Blätter wieder aus dem Papierkorb, strich sie glatt und steckte sie mit dem dritten Versuch in das Deutschheft. Na, wenn die ganze Arbeit keine gute Zensur gibt, dann...


Was in der nächsten Geschichte passiert


"Die Spuren kommen aus dieser Richtung." sagte der kleine Frosch und zeigte in Richtung Wald.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen